Heinrichsblatt-Serie zum 60-jährigen Bestehen der Betriebsseelsorge (Teil II)
Arbeitswelt im Wandel
Sobald sich eine Möglichkeit bietet, bin ich hier raus!“ Der Angestellte, etwas über 60, will nur noch weg. Die Arbeit war ein wesentlicher Teil seines Lebens, sie hat ihm sogar einmal Freude gemacht. Und trotzdem: beim nächsten betrieblichen Personalabbauprogramm mit entsprechenden Prämien will er dabei sein. So wie ihm geht es vielen. Zu viel hat sich verändert – ein Betriebsklimawandel, der vielen zu schaffen macht.
Zunehmender Arbeitsdruck
Der Leistungsdruck und die Belastung in den Unternehmen wachsen. Einen Auftrag – früher acht Monate – will der Kunde heute in vier haben. Der Betrieb muss mitziehen um wettbewerbsfähig zu bleiben. So werden oft ganze Belegschaften vor unerreichbare Ziele gestellt. Gleichzeitig herrscht Personalmangel. Also steigt die Arbeitsverdichtung. Was früher drei Leute an zwei Tagen geschafft haben, muss heute einer an einem Tag hinbekommen. Die Verantwortung wird nach unten durchgereicht. Gearbeitet wird nicht bis die Arbeitszeit endet, sondern bis das Ergebnis fehlerlos erreicht ist.
Die Überstunden steigen jährlich bundesweit und Arbeitszeitregelungen sind für viele Arbeitgeber hinderlich. Flexibilisierung der Arbeit ist daher ein wichtiges Schlagwort: letztlich bedeutet es aber nur die Möglichkeit des Arbeitgebers, frei über Beschäftigte zu verfügen.
Die zunehmende Digitalisierung ermöglicht zudem, dass viele Tätigkeiten nicht nur zu jeder Zeit, sondern auch an beliebigen Orten erledigt werden können. Dadurch erhält die Arbeit einen zusätzlichen Beschleunigungsschub und degradiert Beschäftigte zu Zuarbeitern eines digitalen Systems, das den Takt vorgibt.
Lange Zeit waren die Arbeit und der Betrieb für Menschen ein Stück Beheimatung in ihrem Leben. Diese weicht zunehmend einer sozialen Heimatlosigkeit. Die einen müssen sich beim „Share-Desk-Konzept“ jeden Morgen einen neuen Platz zum Arbeiten suchen und andere können manchmal gar nicht mehr genau sagen, wie sich der Betrieb oder Teilbetrieb jetzt genau bezeichnet, für den sie gerade arbeiten.
Angst vor dem Abstieg
Verkäufe und Übernahmen zur schnellen Gewinnerzielung sind an der Tagesordnung. Ständige Umstrukturierungen, Zerteilung von Betrieben verbunden mit Namensänderungen sind die Folge. Lange gültige Garantien für Arbeitsplatz und Lohn werden ungültig, Bereiche aufgelöst oder ins billigere Ausland verlegt. Das erzeugt ein Klima von Angst und Verunsicherung. Der Umgang mit Menschen durch Arbeitgeber, die von der Erfüllung ihrer Kennzahlen angetrieben werden, lässt oft jedes menschliche Maß vermissen. Der Faktor „Mensch“ wird schnell zum Störfaktor, wenn er nicht flexibel genug funktioniert. Es wächst die Furcht, irgendwann am anderen Ende der Skala zu landen. Denn obwohl dieWirtschaft boomt und die Arbeitslosenquote stets sinkt, ist die Einkommensverteilung in Deutschland derzeit so ungerecht wie vor 100 Jahren. Die atypischen Beschäftigungen wie Teilzeit, Leiharbeit oder Minijobs nehmen stetig zu.
Das erzielte Einkommen reicht oft kaum zum Leben, weshalb oft auch mehrere Jobs nötig sind. Und auch die Unsitte ständiger Befristungen, die Papst Franziskus in einer Predigt einmal als „modernes Sklaventum“ bezeichnete, lässt Menschen auf Dauer perspektivlos bleiben. Der Kern all dieser Veränderungen liegt seit Mitte der 90ger Jahre im neu Erstarken einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, begleitet und beschleunigt durch die Auswirkungen der Globalisierung. Der einzelne Beschäftigte sieht sich diesen Entwicklungen gegenüber meist ohnmächtig ausgeliefert.
Die Betriebsseelsorge kann und will genau diese Ohnmacht mit den Betroffenen aushalten und überwinden helfen. Die Solidarität mit den Beschäftigten an ihrem Arbeitsplatz ist ein Zeichen der Solidarität Gottes mit den „Mühseligen und Beladenen“. Zuhören und Zeit haben, sich für ihre Situation interessieren und Ratgeber sein, bestimmen die tägliche Arbeit der Betriebsseelsorge. Dabei sind die Betriebs- und Personalräte die wichtigsten Partner. Sie können durch unterschiedliche Angebote in ihrem Einsatz für Gerechtigkeit und Würde in der Arbeit Unterstützung erfahren. Ihnen will die Betriebsseelsorge den Rücken stärken und sie befähigen für ihren Dienst an ihren Kolleginnen und Kollegen.
Darüber hinaus muss die Betriebsseelsorge angesichts der sozialen Verwerfungen in der heutigen Arbeitswelt prophetisch sein, den Mund auf machen und Stellung beziehen: Ob in Betriebsversammlungen oder auf öffentlichen Plätzen, ob es um prekäre Beschäftigung geht oder um die Gefahren der Digitalisierung. Und all das spielt sich in keiner kirchlichen Arbeitsstelle ab, sondern direkt vor Ort im Betrieb. Die Betriebsseelsorge ist missionarisch und wagt sich ohne Berührungsängste in pastorales Niemandsland. Sie bewegt sich mehr „draußen“, als in kirchlichen Strukturen. Dort sind viele, denen Kirche längst fremd geworden ist. Und auf einmal erfahren sie eine ganz andere Seite von Kirche: in Menschen, denen ihre Situation nicht gleichgütig ist und die sich auf ihre Seite stellen.