Heinrichsblatt-Serie zum 60-jährigen Bestehen der Betriebsseelsorge im Erzbistum Bamberg (Teil III)
Erwerbsarbeit und kirchliches Handeln
Die Kirche lebt vom Ehrenamt. Sie lebt davon, dass sich Menschen Zeit nehmen, dass sie sich engagieren, dass sie sich einmischen. Normalerweise geschieht das in ihrer Freizeit, dann also, wenn sie von den Verpflichtungen ihrer Erwerbsarbeit befreit sind. Dann haben sie Zeit für ihre Familien, dann können sie ihren Vorlieben nachgehen, dann können sie auch am Gemeindeleben teilnehmen.
Was aber, wenn die freie Zeit nicht mehr richtig planbar ist,
- weil der Mensch ganz flexibel auf die Anforderungen der Arbeitswelt reagieren muss,
- weil Arbeitseinsätze sehr kurzfristig festgelegt werden,
- weil die Arbeitswelt immer übergriffiger wird und mit ihren Ansprüchen in die Freizeit hinüberschwappt (telefonische Erreichbarkeit, Emailanfragen etc.)?
Die Flexibilitätsansprüche der Arbeitswelt an jede und jeden Einzelnen nehmen zu. Und im gleichen Maß schwinden die berechenbaren Freiräume, in denen die Menschen selbstbestimmt über ihren Tagesablauf verfügen können. Anders als zu Zeiten, in denen Normalarbeitsverhältnisse an der Tagesordnung waren, bei denen in der Regel abends und am Wochenende freie Zeit blieb, werden die Arbeitszeiten (und damit auch die arbeitsfreien Zeiten) heute zunehmend flexibel geregelt. Natürlich hat jede und jeder Anspruch auf seine Erholungszeiten, aber eben nicht unbedingt an den Abenden oder am Wochenende. Und wenn bei allen so verfahren wird, ist die freie Zeit auch nicht mehr kollektiv erfahr- und nutzbar. D.h. die Zeiten für gemeinsames Handeln schwinden, weil die Schnittmenge der vielen individuellen Freizeiten natürlich sehr gering ist.
Eine zunehmend sich flexibilisierende Arbeitswelt nimmt die Freiräume der Menschen also immer stärker in Beschlag. Sie greift immer selbstverständlicher in die Lebenswelten der Menschen ein und macht verlässliche Planungen der familiären Zeitzonen immer prekärer. Und mit einigem Recht kann man wohl prognostizieren, dass sich dieser Prozess mit der fortschreitenden Digitalisierung eher noch weiter beschleunigen wird. Die Arbeitswelt steckt damit zunehmend den Rahmen ab für die Möglichkeit, sich nachhaltig kirchlich zu engagieren oder überhaupt am kirchlichen Leben teilnehmen zu können. Das heißt: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer können immer seltener langfristig bindende ehrenamtliche Engagements eingehen, auch wenn sie dies vielleicht gerne möchten.
Anpassungsdruck
Angesichts dieses permanenten Anpassungsdrucks, dem die Menschen ausgesetzt sind, werden auch die wirklich guten und gut gemeinten kirchlichen Entlastungsangebote kaum mehr als solche wahrgenommen. So zeigt sich etwa die Liturgie als einer der wenigen unverzweckten Räume in unserer Gesellschaft, weil sie sich der allgemeinen kapitalistischen Verwertungslogik entzieht und damit beste Voraussetzungen zur Subjektwerdung des Menschen und damit zur Humanisierung der Welt bietet. Doch diese Dimension kommt gar nicht richtig zur Geltung. Auch solche Angebote werden häufig nur als weitere terminliche Zumutung empfunden. Wenn der Druck groß ist, wird eben alles zu viel.
Die Erwerbsarbeit prägt somit unser kirchliches Leben. Sie ist ein Querschnittsthema über nahezu alle sozialen Milieus hinweg. Lohnabhängige Arbeitnehmerexistenz mit allen damit verbundenen Problemen, Ängsten und Hoffnungen gibt es eben in der gesamten Gesellschaft. Und die damit verbundenen Erfahrungen sind lebenslang angereicherte, tiefgehend prägende, existentielle Erfahrungen. Entsprechend wäre auf ihrer Basis auch ein sehr nachhaltiges pastorales Anknüpfen und Arbeiten möglich. „Wäre“, denn leider passiert das eher selten. Die uns alle prägenden Arbeitserfahrungen sind in gemeindlichen Zusammenhängen thematisch eher unterrepräsentiert. Dabei ist die Arbeitswelt ja kein gottloser Raum, in den wir das Reich Gottes erst hineintragen müssten. Ganz im Gegenteil, Gott ist immer schon da, möglicherweise nicht immer sofort sichtbar, manchmal vielleicht auch incognito, aber er ist da. Und es geht darum ihn zu entdecken und für Anknüpfungspunkte sensibel zu sein.
Interesse zeigen
Wie kann kirchliches Handeln bezüglich des Themas Arbeit aussehen? Das allerwichtigste ist: Interesse zeigen, d.h. die Begegnung suchen! Das ist die Basis von allem. Und zwar echtes, kein geheucheltes oder taktisches Interesse. Keines, das eigentlich die Lösung schon kennt, weil es sich im Vollbesitz der Wahrheit wähnt. Sondern ein Interesse, das sich hineinziehen lässt in die Alltagswirklichkeit der Menschen in der Arbeitswelt, das sich emotional binden lässt von ihren Befürchtungen und Ängsten, dass sich aber auch mit ihnen freut und feiert.
Ein Interesse auch, dass sich dadurch selbst aufs Spiel setzt, denn es wird durch solcherart Bindung verändert, in seiner bisherigen Sicht auf die Welt etwa oder auch in Fragen des politischen Handelns. Den „Geruch der Schafe annehmen“, wie es Papst Franziskus formuliert, heißt eben auch, sich infizieren lassen und damit die wohlgesetzte Geruchsneutralität ablegen.
Dr. Manfred Böhm, Leiter der Betriebsseelsorge im Erzbistum Bamberg