Mit Farbe und Pinsel gegen Missstände in der Arbeitswelt

Kronach - Beherzt greift Betriebsseelsorger Eckhard „Joey“ Schneider zum Pinsel und taucht ihn in grüne Farbe. Dann steigt er auf die Leiter. Auf dem auffällig in Gelb-Blau gestalteten Plakat unterstreicht er das Wort „Schluss“ und versieht es mit zwei dicken Ausrufezeichen. Auch das Wort „Arbeitsarmut“ unterstreicht er.
Die Forderungen „Schluss mit der Lohnspirale nach unten“, „Sichere Rente für uns alle“ und „Für uns alle: Gute Arbeit. Sichere Rente. Soziales Europa“ sowie die Ermahnung „Die Reallöhne und die Löhne sinken“ prangern derzeit auf einem großen Plakat in der Industriestraße gegenüber WOCO. Angebracht wurde es am Freitag symbolisch „5 Minuten vor Zwölf“. Unter den Titeln „Arbeit muss sich wieder lohnen“ und „Heute die Rente für morgen sichern“ startete diese Aktion am Freitag in allen oberfränkischen Kreisstädten. Der DGB und seine Bündnispartner KAB, afa, die Katholische Betriebsseelsorge und kda wollen damit die Öffentlichkeit über bestehende Missstände in der Arbeitswelt informieren und ihre Forderungen an die Parteien in den bevorstehenden Walkämpfen zur Landtags- und Bundestagswahl präsentieren. Zum Anbringen des Plakats fanden sich in Kronach Vertreter des DGB, der Katholischen Betriebsseelsorge, der KAB sowie Personal- beziehungsweise Betriebsräte von Lear, Loewe, der Firma Willi Schillig, der Frankenwaldklinik sowie des Landratsamtes Kronach ein.
Dass man den Standort in der Industriestraße sowie die Uhrzeit „Fünf vor Zwölf“ wählte, hat gute Gründe. „Gerade in den Betrieben und Unternehmen im Industriegebiet nehmen die atypischen Beschäftigungsverhältnisse zu. Die Industrie in der Region aber auch generell steht vor der großen Frage beziehungsweise Herausforderung, mit welchen Arbeitsverhältnissen sie wettbewerbsfähig bleiben“, zeigte sich der Betriebsseelsorger sicher. Leider geschehe dies oft zu Lasten der Arbeitnehmer. Viele Arbeitgeber verabschiedeten sich von der Tarifautonomie, um die Löhne sinken zu lassen. Die Tariflöhne seien zwar in den letzten Jahren gestiegen. Davon profitierten aber nur die wenigen Beschäftigten mit Tarifanbindung. „Im Ganzen gesehen sind die Löhne nach unten gegangen. Das macht uns sozialen Verbänden und den Gewerkschaften große Sorgen“, erklärte Schneider. So erlebe man tagtäglich, wie die Menschen mit ihren Nöten bei ihnen Hilfe suchten. Bedenklich sei, dass mehr als 40 Prozent der Unternehmen heute keine über 50-jährigen Mitarbeiter mehr beschäftigten. Auch Diözesansekretärin Maria Gerstner berichtete davon, dass die „Normalarbeit“ auf dem Rückzug sei. Die Anzahl der atypischen Beschäftigten - wie geringfügige Beschäftigte, Leiharbeiter oder Arbeiter mit Werksverträgen - habe sich seit den 1990-er Jahren von etwa 20 Prozent auf mehr als ein Drittel aller Arbeitnehmer erhöht. „Deutschland hat sich zum „Europameister“ des Niedriglohnsektors entwickelt“, machte sie klar. Fast acht Millionen der Vollzeitbeschäftigten arbeiteten für Niedriglöhne. Viele von ihnen müssten daher ihr Gehalt trotz Vollzeit durch Hartz-IV-Leistungen aufstocken. „Wir brauchen einen gerechten Lohn“, forderte sie. Ein gerechter Lohn bedeute für die KAB, dass man davon leben, seine Familie mit ernähren und man sich etwas leisten könne – vor allem aber auch, dass es für später ausreiche. Mittlerweile sehe - laut Schneider - auch die Kirche die Frage der Lohngerechtigkeit aus einem anderen Blickwinkel. So habe sich der Bamberger Erzbischof kürzlich beim alljährlich stattfindenden Treffen mit Gewerkschaftern dahingehend geäußert, dass die Lohnfrage einer der entscheidenden Fragen sei, was gutes Leben ausmache. Wie Schneider ausführte, gebe es verschiedene sichtbare Indikatoren für gesunkene Löhne. „Früher hat man den Leuten angesehen, wer zum Flaschensammeln in den Park geht und die paar Cent mitnimmt. Das ist heute nicht mehr so. Früher trugen Schüler Prospekte aus, um sich etwas Geld dazu zu verdienen. Heute sind es Erwachsene“, verdeutlichte er. Auch der mobile Caritas-Verkaufsladen werde von immer mehr „ganz normalen“ Leuten - oftmals Rentnern - genutzt, weil es hinten und vorne nicht mehr reicht.
Die anwesenden Personal- und Betriebsräte kritisierten, dass viele Menschen mit Hartz-IV als Kombi-Einkommen ihren Lohn aufstocken müssten. Dabei handele es sich um eine Bezuschussung der Arbeitgeber durch Sozialleistungen und damit um eine doppelte Subventionierung. Leistungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld seien von Arbeitnehmern fest eingeplant - beispielsweise für den Kauf von Heizöl. Renten für Menschen, die teilweise 40 Jahre hart gearbeitet hätten, von unter 1.000 Euro im Monat seien keine Seltenheit. DGB-Mitglied Gisela Lang machte ihrem Unmut Luft. „Es ist ein gesellschaftliches Problem, wenn die Wertschätzung für Arbeit so niedrig ist und die Menschen so schäbig entlohnt werden. Es fehlt einfach der Anstand. Wir können so nicht mit uns umgehen lassen. Wir sprechen von Einzelfällen, dabei ist das ein Drama für unser Land, das alle angeht“, forderte sie. Eine gesellschaftliche Diskussion tue dringend Not. hs
Zahlen und Fakten aus dem Landkreis Kronach:
Vollzeitbeschäftigte (ohne Azubi): 17.902, davon mit Entgelten unter bundeseinheitlicher Niedriglohnschwelle: absolut 4.685 (Anteil 26,2 %), Mini-Jobs zum 30.06.2012: 5.241 – davon ausschließlich Minijob: 3.344 sowie als Nebenjob: 1.897, Entwicklung seit 2002: plus 34 %, „Aufstocker“: abhängig erwerbstätig: 373, selbständig erwerbstätig: 3, gesamte Leistungsbezieher: 375, Rente wegen Alters: durchschnittlich 719,37 Euro. hs
