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Veranstaltungen der Arbeitsloseninitiativen im Coburger Gemeindezentrum St. Augustin zur Hartz-IV-Reform

Datum:
Veröffentlicht: 4.5.07
Von:
Heinrichsblatt - Friedrich Rauer

„Öffentlich finanzierten dritten Arbeitsmarkt“ gefordert

Ich war einfach fix und fertig“, bringt eine junge Frau ihre Erfahrungen im Job-Center auf den Punkt. Auf ihren Antrag auf Arbeitslosengeld II hatte der zuständige Sachbearbeiter im Job-Center mit der Forderung reagiert, sie müsse sich eine billigere Wohnung suchen. Ihre derzeitige Wohnung ist 70 Quadratmeter groß und kostet 290 Euro Miete. „Ich dachte, das passt so“, erzählt sie.

Das Arbeitslosengeld II beträgt monatlich 345 Euro. Hinzu kommen „angemessene Mietkosten“. Im konkreten Fall hätte die Frau Anspruch auf eine Wohnung von 45 Quadratmeter. Als Mietzuschuss stehen ihr 238 Euro plus 51 Euro Heizkosten zu. Im Job-Center fand man die Differenz zur tatsächlichen Miete von 290 Euro offenbar nicht mehr „angemessen“: „Ich wurde massiv bearbeitet, dass ich in eine nur 34 Quadratmeter große Wohnung umziehen sollte.“ Aber: „Dort hätte ich meine Möbel nicht untergekriegt. Das Bett ist zu groß. Auch die Kücheneinrichtung hätte ich nicht mitnehmen können.“ Ihr sei geraten worden, die Küche doch zu verkaufen. Die Frau schüttelt fassungslos den Kopf: „Was bekomme ich denn schon für eine gebrauchte Küche? Nichts! Nichts bekomme ich dafür.“

Ihr Vermieter hat sich inzwischen bereit erklärt, der Frau einen Teil der monatlichen Miete bis auf weiteres zu stunden. „Aber was ist“, fragt sie beklommen, „wenn ich nicht bald einen Job bekomme?“

Erfahrungsaustausch
„Wie viel Hartz IV verträgt die Gesellschaft“ – unter dieser Fragestellung tauschten Betroffene der Arbeitsloseninitiative der katholischen Betriebsseelsorge Coburg kürzlich im Gemeindezentrum St. Augustin ihre Erfahrungen aus. Da war von Problemen die Rede, von denen man meint, es könne sie in einem reichen Land wie Deutschland gar nicht geben. Eine Frau erzählt von einer Freundin, die ihre Wäsche seit Monaten im Spülbecken wäscht. „Ihre Waschmaschine ist kaputt. Und als Hartz IV-Empfängerin bekommt sie nirgendwo einen Kredit, um sich eine neue anzuschaffen.“ Ob sie sich um eine gebrauchte Waschmaschine von den „Coburger Diensten“ bemüht habe, wird gefragt. „Die haben derzeit keine. Ich habe meiner Freundin deshalb angeboten, ab und zu bei mir zu waschen.“ Theoretisch ist im Arbeitslosengeld II eine Pauschale für Anschaffungen vorgesehen. Aber die, heißt es, sei viel zu gering. Einer aus dem Kreis hat schnell mal nachgerechnet: „Man muss diesen Betrag 17 Jahre sparen, um davon eine neue Waschmaschine kaufen zu können.“

Die Koordinierungsstelle gewerkschaftlicher Arbeitslosengruppen hat weitere Beispiele aufgelistet:
1,53 Euro pro Monat sind für die Wohnungsinstandsetzung veranschlagt. Das reicht noch nicht mal für einen Pinsel, geschweige denn für eine Rolle Tapete. „Nach einem Jahr Sparen ist das Geld für einen Eimer Farbe beisammen.“

1,33 Euro für´s Schulkind. Für Schreibwaren von Schulkindern stehen pro Monat 1,33 Euro zur Verfügung und noch einmal 2,78 Euro für Sport- und Freizeitveranstaltungen. Für 1,33 Euro bekommt man gerade mal einen Bleistift und einen Radiergummi.

Bezieher von Arbeitslosengeld II dürfen auch ein „angemessenes Kraftfahrzeug“ besitzen. Aber: Im Leistungssatz ist kein einziger Cent für den Unterhalt eines Pkws enthalten. Einer erzählt, welche Folgerungen für sein Leben er aus seiner Situation (seit sieben Jahren ohne Job) gezogen hat: „Ich habe kein Auto, keinen Fernseher und auch keinen Computer.“

Wütend und hilflos fühlen sich viele angesichts von Ungerechtigkeiten der Hartz IV-Reform, die als diffamierend empfunden werden. Einer empört sich: „In den Bedarfsgemeinschaften werden die Einkommen zusammengerechnet, auch bei Paaren, die nicht verheiratet sind. Der arbeitslose Partner aber muss separat krankenversichert werden. Die kostenlose Mitversicherung gilt nur bei Ehepaaren. Ist das konsequent?“

Teilnehmer der Gesprächsrunde berichten von einem unangemeldeten Besuch eines „Sozialdetektivs“ („Sogar den Kühlschrank musste ich öffnen“) oder sprechen von den Konsequenzen, die zu spüren bekommt, wer in die Schuldenfalle gerät: „Wer seine Stromrechnung nicht bezahlt, muss damit rechnen, dass ein Münzautomat angeschlossen wird. Elektrizität nur noch gegen cash.“ Mehrere beklagen, dass man gezwungen werde, ständig eine gewissen Zahl von Bewerbungen zu schreiben, obwohl man auf dem Arbeitsmarkt längst chancenlos sei. „Erfüllt man das Pensum nicht, werden bis zu 30 Prozent der Regelleistungen gekürzt.“ Einer, der dies unangemessen fand, bekam im Jobcenter zu hören: „Dann klagen Sie halt.“

„Ich habe ja den ganzen Papierkrieg nicht wirklich verstanden“, seufzt eine Frau. Sie bringt zum Ausdruck, was viele bewegt: Ohne Hilfe und fachliche Beratung steht mancher gegenüber der Hartz IV-Bürokratie „auf verlorenem Posten“. „Allein für das Amtsdeutsch bräuchte es einen Übersetzer“, sagt einer. Kurt Stefan Weber, ehrenamtlicher Berater bei der Bürgerinitiative Courage, bestätigt: „Ohne Unterstützung hat es ein Betroffener schwer, sich im Kleingedruckten zurecht zu finden und alle Leistungen auszuschöpfen, die ihm theoretisch zustehen.“ Die Schuld dafür sieht Betriebsseelsorger Norbert Jungkunz nicht in erster Linie bei den Mitarbeitern der Job-Center, sondern in „schlampig formulierten Gesetzen“, die viel Spielraum der Ausdeutung lassen. „Die Zusammenarbeit mit den Job-Centern Coburg Stadt und Land können wir nicht kritisieren. Man weiß dort auch, dass nicht alles rund läuft. Die Betroffenen aber haben das Nachsehen.“ Problematisch sei die Umkehr der Beweislast, findet Jungkunz. „Mit Hartz IV hat der Betroffene nachzuweisen, dass er so in Not steckt, dass er die Solidarität der Gesellschaft verdient.“ Das sei in der Praxis häufig eine demütigende Prozedur: „Eine Grundsicherung wäre menschenwürdiger.“

Der ehrenamtlich in der katholischen Betriebsseelsorge und in den Arbeitsloseninitiativen tätige Rudolf Ohnsorge hat die Erfahrung gemacht, dass bei den Betroffenen oft völlige Unkenntnis über ihre Rechte besteht. Er berichtet von einem Langzeitarbeitslosen, der ein schlimmes Geschwür im Gesicht hatte, aber keinen Arzt aufsuchte, weil er nicht krankenversichert war und kein Geld hatte. „Es dauerte vier Monate, bis der Mann über das Sozialamt versichert wurde und schließlich behandelt werden konnte.“

„Alibiveranstaltung“
Leonhard Fehn, Projektleiter beim Club der Arbeitssuchenden Weidhausen, findet den fortschreitenden Sozialabbau skandalös. Dazu gehört für Fehn auch die Rente mit 67, die in den meisten Fällen de facto eine Rentenkürzung bedeute. Das begleitende „Projekt 50 plus“ kritisiert Fehn als „Alibiveranstaltung“. Jungkunz sieht deshalb nur eine sinnvolle Konsequenz: „Wir brauchen einen öffentlich finanzierten dritten Arbeitsmarkt, damit die Menschen eine Chance haben, aus dem Hartz-IV-Kreislauf herauszukommen.“

Markt und Wirtschaft funktionierten angeblich nur optimal, wenn der Staat sich wenig einmischt, konstatiert Jungkunz. Tatsache sei jedoch, „dass sich der Markt für seine Verlierer und Opfer kaum interessiert“. Ein christlich glaubender Mensch könne nicht akzeptieren, dass der ökonomische Bereich nur von den ihm eigenen Gesetzen beherrscht werde. „Es ist die sozialethische Grundposition der Kirchen, für einen Vorrang der Arbeit vor dem Kapital einzutreten. Arbeit ist ein Menschenrecht.“